„The Fugitives“ – Auf der Landesflucht
Irgendwie ist es fast schon wieder in Vergessenheit geraten, dass direkt vor unserer Haustür Familien und Freunde durch Mauer, Stacheldraht und systemische Gegensätze getrennt waren. Dass ein Teil des deutschen Volkes von einer Unterdrückungsdiktatur in die nächste schlitterte, einfach weil man plötzlich auf der „falschen“ Seite des Landes lebte. Und vor allem, dass es nicht wenige gab, die in ihrer Verzweiflung über ihre Unfreiheit Leib und Leben riskierten, um in den Westen zu gelangen.
Michael Bully Herbig hat diesen Wagemutigen nun ein eindrucksvolles filmisches Denkmal gesetzt, ganz ohne den deutschen Film häufig so unverdaulich machenden Hang zu Psychologisierungs-Schwermut und exstatischer Selbstanklage. Indem er den Stoff einfach als nervenzerfetzenden Thriller präsentiert, erreicht er etwas, was dem Gros der sich in gestelzter Dramatik verlierenden Vorläufer abging: Druck, Verzweiflung und Sehnsucht fluchtwilliegr DDR-Bürger wirklich erfahrbar zu machen und nachhaltig ins Zuschauerbewusstein einzubrennen.
Der ein oder andere mag sich kurz verdutzt die Augen reiben, dass der Vater solch krachiger Humorgranaten wie „Bullyparade“, „Schuh des Manitu“, („T)Raumschiff Surprise“ und Co so mir nichts dir nichts einen schnörkellosen Historien-Thriller präsentiert und damit auch noch voll ins Schwarze trifft. Wie gesagt nur kurz, denn Herbig hat bei genauerem Hinsehen schon bei seinen Kalauer-Kinohits enormes filmisches Gespür bewiesen und trotz aller im Vordergrund stehender Blödeleien sowohl das Western- wie auch Science Fiction-Genre erkennbar sehr genau studiert gehabt. Beides sah in jeder Szene nach versiertem Regiehandwerk aus bei dem Kompetenz und Sympathie fürs Genrekino produktiv fusionierten. Das hatte eine ganz andere Qualität als beispielsweise beim vermeintlichen Komödienstadl-Kollegen Schweighöfer, dem außer TV-Werbung-Ästhetik der Marke Schöner-Wohnen-Pastiche und bräsigen Geschlechter-Flachwitzen nur wenig einfällt.
In „Ballon“ schafft Herbig den im heimischen Kino nur selten versuchten und noch viel seltener gelungenen Spagat zwischen Unterhaltung und Ernsthaftigkeit. Was im US-Film seit jeher zum etablietren Repertoire gehört, scheint hierzulande eine Herkulesaufgabe. Um so schöner, wenn es alle Jubeljahre dennoch mal klappt. So werden wir ohne viel Federlsenes mitten ins von fiebriger Anspannung geprägte Leben der Familie Strelzyk geworfen. Auf der Rückfahrt von der Jugendweihe ihres älteren Sohnes Frank lernen wir auch gleich ihren jovialen Nachbarn kennen, der es sich als Stasi-Mitarbeiter in der Diktatur so richtig gemütlich gemacht hat unjd auf der Rückfahrt ganz spontan auf eine Nachbarschaftsparty einlädt. Der gehetzt wirkenden Strelzyks haben also allen Grund zur Panik, schließlich planen sie noch für denselben Abend die monatelang vorbereitete Landesflucht per selbst gebastelten Heißluftballon, da ist auch nur das klieinste Verdachtsmoment tödlich.
Wir sind also binnen fünf Minuten mittendrin im von Terror, Angst und Bespitzelung geprägten Klima der DDR-Diktatur und lernen auch gleich die zwei Seiten der Medaillle kennen, je nach Anpassungsbereitschaft an das Regime. Von Beginn liegt eine atemlose Spannung über dem Szenario, die sich im weiteren Verlauf immer weiter zuspitzt. Denn der Fluchtversuch scheitert kurz vor der Grenze an witterungsbedingten Schwierigkeiten. Nun heißt es sämtliche Spuren der Beteiligung zu beseitigen, ansonsten droht der gesamten Familie die berüchtigte Stasi-Haft. Zudem bleiben für einen möglichen zweiten Versuch nur wenige Wochen, da Ballon-Konstrukteur Günter Wetzel (David Kross) zur NVA eingezogen werden soll. Unterdessen hat der Staat einen ihrer hartnäckigsten Spürhunde auf den Fall angesetzt: Oberstleutnant Seidel (Thomas Kretschmann) entgeht nicht das kleinste Detail und einen Fehler haben die Fluchtwilligen bereits gemacht …
„Ballon“ ist ein lupenreiner Thriller, ja, aber das geht nie zu Lasten historischer Authentizität. Nicht nur hat Herbig erkennbar akribisch recherchiert und gibt sich in punkto Ausstattung und Zeitkolorit keinerlei Blößen. Es gelingt ihm auch Perfidie, Opportunismus und Resignation auf der einen sowie Angst, Wut, Verzweiflung und Aufbegehren auf der anderen Seite greif- und nachvollziehbar heraus zu arbeiten. Das ist nicht nur essentiell für die Motivation der gegnerischen Parteien, sondern auch für die Glaubwürdigkeit eines Stoffes, der sich einer auch heute noch präsenten Phase der jüngeren Zeitgeschichte annimmt. Die ständige Furcht vor Entdeckung mitsamt deren unweigerlich existentiellen Folgen für die Landflüchtigen überträgt sich nahtlos auf den Zuschauer, der damit einen zwar eng umrissenen, aber dennoch unmittelbaren Eindruck vom Leben in einer Diktatur bekommt, den eine Dokumentation zum selben Thema niemals vergleichbar intensiv vermitteln könnte und bisher auch nie hat.
Besonders effektiv in dieser Hinsicht ist auch Herbigs Schauspielführung. Friedrich Mücke und Karoline Schuch sind als Ehepaar Strelzyk deswegen so glaubwürdig, weil sie auf theatralische Ausbrüche oder ausufernde Gefühlsdramen verzichten. Angsichts des enormen Drucks können sie nur funktionieren, wenn sie fokussiert bleiben und ihre Gefühlswelt so gut wie möglich kontrollieren. Also beschränket sich die Sichtbarkeit ihres Innenlebens auf Blicke, Gesten und ein paar wenige Augenblicke, in denen die Dämme zu brechen drohen. Und steht die Gefühlswelt mal doch dem eigentlichen Ziel im Weg (wie beim von der ersten großen Liebe übermannten Frank), wird es sofort brandgefährlich.
Gut auch, dass Herbig die deutsche Unart vermeidet die Charaktere ausschweifend zu psychologisieren, was nicht nur die Dramatik des Geschehens gehörig ausbremsen würde, sondern in der gezeigten Situation schlicht keinerlei Relevanz hat. Überdies hat Herbig zahlreiche Gespräche mit Günter Wetzel und auch den Strelzyk geführt (die dann auch Beraterverträge erhielten), so dass man durchaus annehmen kann den echten Figuren sehr nahe gekommen zu sein.
Die Kunst eine Geschichte mit bekanntem Ausgang – die Berichte um die geglückte Flucht gingen 1979 um die (westliche) Welt – spannend zu erzählen, ist gar nicht hoch genug zu bewerten. Der unbedingte Fokus auf Planung und Durchführung der Flucht ist dafür eine sehr zieführende Entscheidung. Auch die Reduzierung der realen drei Fluchtversuche auf nurmehr zwei im Film sowie die Verkürzung der finalen Vorbereitungen von 10 auf 6 Wochen dienen dieser dramaturgischen Verdichtung. Permanent scheinen die Stasi und der von Kretschmann famos gespielte Seidel nur ganz kurz vor der Festnahme zu stehen, was Herbig durch eine Reihe geschickt eingebauter Twists und falscher Fährten bis zum Anschlag ausreizt.
Hier beherrscht jemand die Klaviatur des Thriller-Genres mit beinahe traumwandlerischer Souveränität und Effektivität. Ein ums andere Mal fühlt man sich an den Harrison Ford-Nägelkauer „The Fugitive“ erinnert – und das nicht nur, weil Thomas Kretschmann seine Rolle ähnlich (effektiv) der von Tommy Lee Jones anlegt. Vielmehr ist es die Vituosität mit der das gute alte Katz-und Maus-Spiel durchexerziert wird, die hier die entscheidende Referenz-Klammer abgibt. Dass dabei die wahre Geschichte dennoch ihre Wahrhaftigkeit behält, ist letzlich das größte Plus dieses in jeder Hinnicht hervorragend gemachten Films.