„Kleine graue Zellen ganz groß!“
Britisches Understatement ist Kenneth Branaghs Sache nicht. Dem schauspielernden Regisseur wird gerne ein übergroßes Ego plus ein gehöriges Maß an Narzissmus nachgesagt. So ganz unberechtigt ist das nicht, was vor allem diejenigen seiner Werke belegen, in denen er sein eigener Hauptdarsteller ist. Besonders gern inszeniert er sich als Protagonist heimischer Literaturklassiker (Henry V., Hamlet, Frankenstein), so gesehen ist die Rolle des belgischen Meisterdetektivs Hercule Poirot geradezu prädestiniertes Branagh-Material.
Nicht nur ist der schnauzbärtige Belgier neben Sherlock Holmes sicher die bekannteste Figur der britischen Kriminalliteratur, sondern ist er auch mit einer Egozentrik und Selbstverliebtheit ausgestattet, für die sich Branagh – so böse Zungen – gar nicht groß verwandeln muss. Zudem hat er es in der Vergangenheit schon mehrfach geschafft, nicht unbedingt hoch modernes Material einen frischen, zeitgemäßen Anstrich zu verpassen. Das hat bei Shakespeare besser wie bei Mary Shelly funktioniert, aber diese spezielle Fähigkeit war zumindest stets erkennbar. Warum also nicht auch Agatha Christie und Hercule Poirot.
Als bekanntestes Werk dieser Konstellation gilt sicher „Mord im Orient-Express“ von 1934. Viel mag dazu der reißerische Titel beigetragen haben, denn Poirot hatte sowohl spannendere, wie auch interessantere Fälle zu lösen gehabt. Aber Mord macht sich im Titel immer gut und der praktisch hermetisch abgeriegelte Raum eines fahrenden, noch dazu solch mondänen Zuges birgt ein ganz besonderes Thrill-Potential. Weder Mörder, noch Verdächtige können entkommen, so dass der Ermittler wie auf einem Polizeirevier in Ruhe jeden verhören kann. Gleichzeitig lebt jeder in Angst, dass der Mörder noch einmal zuschlagen könnte, sei es, weil er sein tödliches Werk noch nicht vollendet hat, sei es, weil er glaubt entlarvt worden zu sein.
Essentiell für die Spannung solcher Whodunits ist eine veritable Anzahl Verdächtiger. Schließlich wollen Detektiv und Publikum etwas zum Rätseln haben. Allerdings müssen diese dann auch klar voneinander zu unterscheiden sein, will man nicht den Überblick verlieren. Die entsprechenden Filme lösen das Problem gern mit einer Starbesetzung. Auch Kenneth Branagh greift in seiner Neuauflage zu diesem probaten Mittel. So finden wir unter den Passagieren u.a. Johnny Depp, Michelle Pfeiffer, Willem Dafoe, Judy Dench, Penélope Cruz, Derek Jacobi und Daisy Ridley.
Die Orientierung an bekannten Gesichtern ist in diesem Fall besonders wichtig, da wir aus Plotgründen erst nach und nach etwas über die einzelnen Personen erfahren und sie nicht wie sonst allesamt zu Beginn des Film dem Publikum vorgestellt werden. Aus diesem Grund steht der von Branagh verkörperte Poirot noch stärker im Zentrum der Handlung wie sonst, was dramaturgisch keine ideale Lösung darstellt. Die übrigen Figuren bleiben damit lange Zeit relativ blass und fragmentarisch, was wiederum das unbestreitbare Talent des Cast nicht voll zur Entfaltung kommen lässt. Das änderst sich erst im Schlussdrittel, als die Auflösung unmittelbar bevorsteht.
So gesehen ist „Mord im Orient-Express“ vielleicht nicht die beste Wahl für eine Poirot-Verfilmung, da der Miträtselfaktor vergleichsweise gering ausfällt. Branagh wiederum dürfte das anders gesehen haben, bietet ihm doch ein solcher Protagonisten-zentrierter Ansatz genau die richtige Spielwiese für seine Selbstinszenierung. Und die betreibt er in vollen Zügen. Sein Hercule Poirot ist ein pedantischer, arroganter, versnobter Egozentriker, der sich seiner genialen intellektuellen Fähigkeiten voll bewusst ist und mit dieser Kenntnis auch gern hausieren geht. Branagh setzt damit weniger auf den ironischen Witz seines berühmtesten Vorgängers Peter Ustinov, ist damit aber auch näher an der Romanfigur.
Branagh stellt besonders das Dandyhafte – er ist stets wie aus dem Ei gepellt und kritisiert andere für die kleinsten Modesünden – und Pedantische des Detekttivs heraus. Jedes Verbrechen ist eine Anomalie vom Normalzustand und deswegen etwas Störendes, das es zu beseitigen gilt. Poirot löst seine Fälle also auch aus einem Verlangen nach Perfektion heraus. Man denkt dabei schnell an Benedict Cumberbatchs Interpretation von Sherlock Holmes, aber ihm nimmt man das Verschrobene und intellektuell Abgehobene weit mehr ab, wie dem dazu etwas zu kernigem Branagh. Der Versuch, sich von Ustinovs legendärer Interpretation möglichst deutlich abzusetzen ist prinzipiell richtig und honorabel, aber gerade Branagh hätte der humorvollere Anzug besser gestanden.
Mutig ist auch sein Entschluss, seinen Film gleichzeitig modern und altmodisch wirken zu lassen. Anders als die „Sherlock“-Macher verpflanzt er die Handlung nicht in die Gegenwart, sondern bleibt beim Setting der 1930er Jahre. Ausstattung und Set Design tragen diesem Konzept erkennbar Rechnung und versetzten den Zuschauer visuell in die Ära des klassischen Hollywoodfilms. Branagh bricht dies allerdings immer wieder durch inszenatorische Kniffe auf, in dem er schnelle Kamerafahrten entlang oder im Innern des Zuges initiiert sowie ungewohnte Perspektiven einstreut. Am auffälligsten ist dabei die Entdeckung des Mordes durch Poirot und einen Schaffner, bei dem Branagh von oben auf das Abteil blickt.
Insgesamt kennzeichnet den Film eine altmodische Eleganz, die sich nicht nur visuell, sondern auch narrativ äußert. Der Dialog ist hier der Hauptantriebsmotor, was dem ausgewiesenen Theatermann Branagh natürlich entgegen kommt. Dazu kommen moralische Verwerfungen, die die auch optisch eher düster angelegte Stimmung verstärken. Vom Zuschauer fordert Branagh ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit und gedanklicher Teilhabe, weil eben nicht – wie im aktuellen Kino so häufig der Fall – alles in ein paar Schlagworten oder nur noch durch plakative Bilder erklärt wird.
Alles in allem also ein geradezu typischer Branagh, der sich nicht nur selbst als egomanischen Superdetektiv inszeniert, sondern mit einer in Teilen betont klassischen Inszenierung eines angestaubten Stoffes lauthals verkündet: Seht her, ich habe auch damit Erfolg! Die finale Ankündigung eines Sequels (Agatha Christies „Tod auf dem Nil“) ist hier kein bloßer Reflex des modernen Mainstreamkinos, sondern ein klares Bekenntnis zur eigenen Stärke. Understatement gehört eben nicht zu Branaghs Repertoire. Dem „Mord im Orient-Express“ hat das aber keineswegs geschadet.
(Rating: 7 / 10)
Copyright aller Filmbilder: ©Twentieth Century Fox 2017 |
_________________________________
© Marcus Lachmund (vodkamartini)